"Sag den Wölfen, ich bin zu Hause" - Carol Rifka Brunt

Mich sprang schon das Cover an. Es ist frisch und ein bisschen geheimnisvoll. Ich kaufe häufig meine Bücher nach dem Aussehen. Damit kann man auch mal daneben liegen. Bei diesem Buch nicht!
Das Cover passt nicht ganz. Die abgebildete Frau/das junge Mädchen müsste anders aussehen. Mit Stiefeln.
Als ich das Buch kaufte, wusste ich nicht, was mich erwartet. Ein "Blind-Date" Buch. Und ich wurde belohnt.
Es ist ein Buch über so Vieles.
Über die erste Liebe.
Tiefe Freundschaft.
Das Erwachsenwerden.
Schwestern in der Pubertät.
Ausgegrenzt sein.
Allein sein.
Zeitdiebstahl.
Vertrauen und Betrug.
Familienbanden und Wahlverwandtschaften.
Rücksicht und Ertragen.
Nachfragen und Antworten.
Angst und Verständnis.
Leben und Tod.
Besonders Leben. Besonders Tod. Besonders Liebe.
June, mit 14 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ist die Hauptperson. Ihr Patenonkel, Finn. Ein herausragender Künstler, der ein Portrait von June und ihrer Schwester malt. Er stirbt. An AIDS. Ende der 1980er ist es noch eine Krankheit, über die man nur hinter vorgehaltener Hand spricht, am Besten verschweigt. Und über die die Menschen schlecht informiert sind. Zu Beginn des Buches ist June unbedarft, als ihr Onkel Finn stirbt bricht ihre Welt zusammen. Und dann ist da plötzlich ein Mann, am Rande der Beerdigung, den die Familie (ihre Mutter ist die Schwester von Finn) nicht dabei haben will. Den sie Mörder nennen.
Warum? Wer ist das? June versteht es nicht. Es wurde nicht darüber geredet. Aber da ihre Familie ihn so nennt, gerät ihr kleiner Kosmos "aus den Fugen", als sich dieser Mann, Toby, in ihr Leben einschmuggelt. Vorsichtig, doch zielstrebig bricht er ihren Kokon auf. Nähert sich ihr. Emotional. Übernimmt den Part ihres geliebten Patenonkels, der gefühlt "immer" für sie dagewesen ist.
Sie lernt Verantwortung für andere zu tragen. Nicht nur für Toby, auch für ihre begabte, ältere Schwester. Greta, der "Sonnenschein" der Familie.
June, die verschlossene, etwas geheimnisvolle Einzelgängerin. "Gehasst" von der größeren Schwester, unverstanden von den Eltern. Pubertierend. Sie wird zur Beschützerin ihrer Schwester und - geheim - von Toby.
Mehr möchte ich nicht verraten - lest es selbst!
Mich hat es am Herzen gepackt. Mit der Sprache. Mit Allem.
Ich hatte Angst um Greta, die immer wieder versucht aus ihrer Rolle des Familien-Sonnenscheins auszubrechen. Vertrauend und hoffend, dass June sie retten wird. Ich hatte Sorgen um June, die, in ihrer tiefen Trauer um die erste Liebe und der damit verbundenen ersten Begegnung mit dem Tod, ein bisschen den Boden unter den Füssen verliert. Und bei der das "Erwachsen-werden-Karusell" - zu! - schnell an Geschwindigkeit aufnimmt. Um die Eltern, die so mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt sind, dass sie dieses brutale Erwachsenwerden ihrer Töchter nicht mal ansatzweise mitbekommen. Trotzdem konnte ich die Liebe der Eltern zu den Mädchen und die Sorge (und das hilflose und falsche Umgehen damit) herauslesen und spüren. Mit selbst drei mehr oder weniger aus der Pubertät entwachsenen eigenen Kindern, waren mir einige Situationen durchaus bekannt.
Am Ende des Buches bleiben getrocknete Tränen, Hoffnung auf "es wird gut". Vertrauen in die Mädchen - und die Eltern. Und das Gefühl, ein wirklich gutes Buch gelesen zu haben.
Wem ich es schenken würde?
Meiner Tochter, meinem Mann, meinen Freundinnen und meiner Mutter, wenn sie noch leben würde.